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Archiv-2007 Jubilaeum 100 Jahre Festpredigt

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Festgottesdienst "100 Jahre Gehörlosenseelsorge in Bayern" am 13. Oktober in Nürnberg - St. Egidien

Von Landesbischof Dr. Johannes Friedrich

Predigttext: 2. Mose 4,10-17

Liebe Festgemeinde,

das ist heute ein wirklicher Festtag. Vor 100 Jahren wurde in Nürnberg der erste Gehörlosengottesdienst gefeiert. Seit 100 Jahren gibt es nun die Gehörlosenseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Gehörlose Menschen gibt es natürlich schon viel länger. Aber vor 100 Jahren hat die Kirche endlich ihre Aufgabe darin gesehen, sich um diese Zielgruppe zu kümmern. Damit waren hörgeschädigte und gehörlose Menschen ganz öffentlich anerkannt.

Wir wissen wohl, was in der Zeit davor vor allem auf dem Lande üblich war. Gehörlose wurden wie auch andere Menschen mit Handicap eher verschwiegen oder gar versteckt. Wer nicht war, wie alle, kam rasch in die Außenseiterrolle.

Dabei wissen wir, dass Menschen, die ein nur gering oder gar nicht ausgebildetes Sinnesorgan haben, in anderen Bereichen den so genannten "gesunden" Menschen haushoch überlegen sind. Blinde zum Beispiel, können besonders gut hören und fühlen. Sie bemerken jede Hausecke am Luftzug. Das kann ich nicht. Gehörlose verstehen die Gebärdensprache. Manche können sogar die Worte von Lippen ablesen. Ich kann weder das eine noch das andere.

In früheren Jahrhunderten aber sah man bei Menschen mit Handicap immer nur das Defizit, nicht die besonderen Fähigkeiten. Deshalb war es besonders wichtig, ihnen öffentliche, gesellschaftliche Anerkennung zuteil werden zu lassen. Indem die Kirche für sie Gottesdienste anbot und eine kirchliche Gehörlosenarbeit aufbaute, war diese Anerkennung öffentlich demonstriert.

Heute gibt es allein in Bayern 15 Gehörlosengemeinden. In der Zentrale hier in Nürnberg sind von den 12 Hauptamtlichen mehr als die Hälfte selbst gehörlos. Von den 150 Ehrenamtlichen im ganzen Land sind sogar 90 Prozent gehörlos und nur 10 Prozent hörend. Ich finde es wichtig, dass die Hörenden einmal diese Zahl wahrnehmen. Dann wird nämlich klar, dass Menschen mit Handicap keine "Betreuungsfälle" sind, sondern aktive Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Leitungsaufgaben und demokratische Vertretungsrechte ausüben. Sie bedienen sich dazu lediglich einer besonderen Sprache, der Gebärdensprache.

Liebe Festgemeinde: Dass es hör- und sprechbehinderte Menschen schon immer gegeben hat, dass sie aber nicht Menschen mit einem Defizit sind, sondern von Gott genauso in Dienst genommen werden wie Hörende, das zeigt ein kleiner biblischer Text aus dem Alten Testament. Ich lese aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 4, die Verse 10 bis 17:

Mose aber sprach zu dem HERRN: Ach, mein Herr, ich bin von jeher nicht beredt gewesen, auch jetzt nicht, seitdem du mit deinem Knecht redest; denn ich hab eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. Der HERR sprach zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich's nicht getan, der HERR? So geh nun hin: Ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst. Mose aber sprach: Mein Herr, sende, wen du senden willst. Da wurde der HERR sehr zornig über Mose und sprach: Weiß ich denn nicht, dass dein Bruder Aaron aus dem Stamm Levi beredt ist? Und siehe, er wird dir entgegenkommen, und wenn er dich sieht, wird er sich von Herzen freuen. Du sollst zu ihm reden und die Worte in seinen Mund legen. Und ich will mit deinem und seinem Munde sein und euch lehren, was ihr tun sollt. Und er soll für dich zum Volk reden; er soll dein Mund sein, und du sollst für ihn Gott sein. Und diesen Stab nimm in deine Hand, mit dem du die Zeichen tun sollst.

Die kleine Szene, die wir gerade gehört haben, findet sich im Anschluss an die Begegnung des Mose mit Gott im brennenden Dornbusch. Am Anfang des 2. Buches Mose wird erzählt, dass das Volk Israel als unterdrückte und mit Fronarbeiten belegte ausländische Minderheit in Ägypten lebt. Da wird ein hebräischer Knabe geboren, den seine Mutter, um ihn vor dem Staat zu schützen, der die Tötung aller hebräischen neugeborenen Knaben verfügt hat, in ein verpichtes Kästlein legt, und dieses Kästlein bringt sie auf den Nil. Das Kästlein wird von der Tochter des ägyptischen Pharao gefunden, die zieht den Knaben wie ein ägyptisches Kind auf. Zum jungen Mann geworden, beobachtet Mose - so hatte die Pharaonentochter den Knaben genannt - eine Gewalttat: Ein ägyptischer Aufseher quält einen Hebräischer mit Schlägen. In einem unbeobachteten Moment erschlägt Mose den Ägypter. Als die Tat bekannt wird, flieht Mose in das Gebiet Midian. Hier kommt es zur Gottesbegegnung. Gott redet Mose an. Mose kann Gott nicht sehen, nimmt aber einen Dornbusch wahr, der brennt, ohne zu verbrennen. Es kommt zum Auftrag Gottes an Mose: Führe mein Volk aus Ägypten heraus!

Mose findet eine Reihe von Gegenargumenten. Die letzte Trumpfkarte, mit der er sich gegen den Auftrag wehrt, ist: Ich war noch nie redegewandt, ich bin schließlich sprechbehindert.

"Ich kann das nicht!" Menschen, die ein Handicap haben, neigen zunächst dazu, Herausforderungen zu verweigern. Sie fühlen sich verunsichert. Vielleicht haben sie auch schon eine schlechte Erfahrung damit gemacht, dass sie sich trauten, aber dann doch gescheitert sind. Niemand will sich blamieren. Da sagt man lieber "Ich kann das nicht!"

Menschen, die hören und sprechen können, reagieren übrigens genauso. Sie erschrecken, wenn man ihnen etwas zu tun vorschlägt, was sie sich selbst nicht zutrauen, und weisen es entschieden zurück: "Ich kann das nicht!" Daran sehen wir: Es liegt gar nicht am Handicap, das jemand hat, sondern am Selbstvertrauen.

Hier in unserer kleinen biblischen Erzählung mutet Gott Mose zu, den Pharao zu bitten, die Israeliten wegziehen zu lassen. Mose sagt: Das kann ich nicht. Ich bin nicht redegewandt, ich bin sprechbehindert.

Gottes Antwort lautet: Wer macht dem Menschen den Mund? Wer macht ihn stumm oder taub, wer macht seine Augen offen oder blind? Bin ich das nicht? Diese Aussage ist leicht misszuverstehen. Es geht nicht darum, dass wir für unser Handicap oder unsere Krankheit oder unsere Lebensangst Gott verantwortlich machen können. Gott will damit sagen: Ob du blind oder sehend bist, stumm oder redend, taub oder hörend: Ich bin dir in gleicher Weise nahe. Vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen gehörlosen und hörenden Menschen. Ja - noch mehr: Diese kleine Erzählung zeigt, dass Gott sprechbehinderten Menschen genau dasselbe zutraut, was er auch sprechenden Menschen zutraut. Gott macht keinen Unterschied. Vor Gott zählst du mit deinem Handicap genauso wie jemand ohne. Ist diese Geschichte nicht eine Stärkung des Selbstwertgefühls?

Gott traut Mose etwas zu. Und genauso traut er Ihnen allen, die Sie heute als Gehörlose oder Hörbehinderte diesen Gottesdienst mitfeiern. Gott kann und will Sie gebrauchen!

Vielleicht denkt mancher: Na ja, ich kann freilich etwas tun. So lange es nicht mit Reden oder Hören zu tun hat. Aber unser biblischer Text zeigt: Gerade das traut Ihnen Gott zu.

Entscheidend ist, dass wir die Herausforderung annehmen. Wenn Gott uns gebrauchen will, dann soll es nicht heißen: Ich kann das nicht! Gott zeigt dem Mose hier ja einen Weg auf, wie das gehen kann. Mose soll das, was er von Gott her zu sagen hat, seinem Bruder Aaron sagen. Und der sagt es dann den Ältesten Israels und dem Pharao. Das ist der Hinweis auf einen Übersetzer.

So feiern wir ja auch diesen Gottesdienst. Ich als Hörender wäre völlig hilflos, wie ich zu Ihnen, liebe Festgemeinde, reden sollte. Ich hätte, als mich der Pfarrer Klenk dazu einlud, sagen müssen: Ich kann das nicht!

Gott sei Dank! aber gibt es hier viele Aarons, die meine Worte in Ihre Gebärdensprache übersetzen. Ohne die müsste ich wie Mose sagen: Nein, ich habe eine schwere Sprache und einen schweren Mund, ich bin sprechbehindert. Die Gehörlosengemeinde versteht mich nicht.

Weil es einen Übersetzer gibt, kann Mose den Auftrag Gottes dann doch annehmen. Und es gelang! Weil Mose den Auftrag annahm, erfuhren die Ältesten Israels von Gottes Plan. Weil Mose, der sprechbehinderte Mose, den Auftrag annahm, kam die Sache vor den Pharao. Und schließlich geschah es, dass sich das Volk Israel aufmachte aus Ägyptenland in eine Zukunft, die Gott ihm weisen würde.

Ist das nicht erstaunlich? Wir müssen es uns ganz klar machen: Dass das Volk Israel in das Land zog, das Gott ihn als sein Land zeigte, und dort ist ja bis heute der Staat Israel, ist ein Vorgang von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das entscheidende Bindeglied zwischen Gott und dem Volk, das diesen Vorgang initiiert hat, war ein sprechbehinderter Mensch, ein Mensch mit einem Handicap.

Gott sagt nicht: Damit mein Auftrag auch wirklich in die Gänge kommt, geh ich mal lieber auf Nummer Sicher und nehme mir die größte rhetorische Leuchte. Es ist ein Mensch mit einem Handicap, an dem alles hängt, weil Gott es ihm zutraut. Es ist ein Sprechbehinderter, der Gottes Sache zur Sprache bringt.

Gott macht es immer so. Jahrhunderte später wird er in einem Kind, das in einem Stall geboren wird, Mensch, nicht im Himmelbett in einem Palast. In diesem Kind beugt sich Gott herab zu den Mühseligen und Beladenen, zu den Armen und zu den Kranken, zu den Menschen mit Ängsten und zu denen mit Handicaps. Am Kreuz geht er den Weg der Erniedrigung, um uns alle durch sein Blut zu erlösen von der Sünde. Klein oder groß, Handicap oder nicht - das spielt vor Gott keine Rolle. Die auf seinen Namen getauft sind, dürfen sich Gott nahe wissen: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Liebe Festgemeinde, 100 Jahre gibt es nun die Gehörlosenseelsorge der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Ich denke, wir haben heute verstanden: Gehörlose sind keine Pflegefälle, sondern vollwertige Menschen wie du und ich, sie sprechen und verstehen nur eine andere Sprache. Gehörlosenseelsorge will Gehörlose auf die Schätze der Bibel aufmerksam machen, weil so das Selbstwertgefühl gehörloser Menschen enorm gesteigert werden kann. Es ist Gott, der Ihr Selbstwertgefühl steigert. Denn wer ein Handicap hat, ist weder von Gott gestraft noch Gott fern. Blind oder sehend, stumm oder redend - du bist mein. Der sprechbehinderte Mose, der Gottes Auftrag durch den Übersetzer Aaron ausrichtet, ist gewissermaßen das Wort Gottes an alle sprech- und hörbehinderten Menschen: Gott traut dir zu, dass auch du dich von ihm in seinen Dienst nehmen lässt.

Sagen Sie nicht: Ich kann das nicht! Immer wenn Ihnen dieser Gedanke kommt, sollten Sie an die kleine biblische Szene denken, über die wir heute nachgedacht haben. So segne Gott sein Evangelium an uns. Er möge uns seiner Liebe und seines Beistandes gewiss machen und in seinen Dienst rufen. Amen.

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